Das Prager Jesulein

 

Zu Füßen der Prager Burg liegt ein Stadtteil, der zu den reizvollsten und interessantesten von Prag gehört: Die Kleinseite. Dieses Stadtviertel unterlag wenigen Eingriffen und hat deshalb auch die moderne Zeit beinahe unbeschadet überstanden. Zahlreiche Paläste, Gärten, Bürgerhäuser, Plätze und insbesondere Kirchen verleihen der Kleinseite einen eigenartigen, sonst nur schwer beschreibbaren Charakter. In jedem Gässchen, in den schattigen und stillen Höfen, in den malerischen Winkeln mit ihren Efeupergolen taucht das Licht, auch in der Nacht, unvergleichbar ein.
In diesem bezaubernden Milieu steht in der Karmelitengasse die Kirche “Unserer Lieben Frau vom Siege”. Sie hat unter den übrigen Kleinseitener Kirchen eine ganz außerordentliche Bedeutung, nicht nur wegen ihrer Architektur und künstlerischen Ausschmückung, sondern vor allem deshalb, weil hier die berühmte Statue des Prager Jesuleins aufbewahrt und verehrt wird. Beinahe in allen Erdteilen und natürlich in vielen Wohnungen der Oberpfalz und Böhmens finden wir Kopien der kleinen Statue und dem Jesulein geweihte Kultstätten.
Die Kirche wurde in den Jahren 1611 – 1613 erbaut, war zunächst in Besitz der deutschen Lutheraner und der Allerheiligsten Dreifaltigkeit geweiht. Sie gehört zu den wenigen Spätrenaissancebauten in Prag, wobei die Bauausführung wahrscheinlich kein geringerer als der Hofbaumeister Rudolfs II., Giovanni Maria Filippi, ein Italiener, übernahm. Mit finanzieller Hilfe von spanischen Generälen, die an der Schlacht am Weißen Berg teilnahmen, wurde die Kirche 1628 vollendet. Nach dem Sieg der Gegenreformation in den böhmischen Ländern übergab Ferdinand II. die Kirche den unbeschuhten Karmelitern. Sie wurde gleichzeitig der Siegreichen Jungfrau Maria und dem Hl. Antonius von Padua geweiht. In den Jahren 1636 – 1647 wurde sie renoviert und gleichzeitig in das Kloster mit einbezogen.
Das Presbyterium wurde danach auf die gegenüberliegende Seite verlegt und an der Ostseite, wo ursprünglich der Chor stand, eine frühbarocke Fassade mit einem der Moldau und dem Stadtzentrum zugewandten Haupteingang erbaut. Der Zutritt zur Kirche erfolgt über einen dreiteiligen Treppenaufgang. Mit diesem Umbau der Kirche fand das Frühbarock zum erstenmal Eingang in die sakrale Architektur Prags.
Der Name des Gotteshauses “Santa Maria de Victoria” (Die Heilige Muttergottes vom Siege) ist geschichtsträchtig. Damit ist in Prag selbstverständlich nicht irgendein Sieg gemeint. Nein, hier siegt die Patronin der Schlacht am Weißen Berge, einer Schlacht, deren Ausgang das gegenreformatorische Europa ebenso feierte wie etwa den bei Lepanto, wo Don Juan de Austria (übrigens ein Regensburger) die Seestreitmacht der Türken vernichtete.
Doch nun zurück zu der Statue, die diese Kirche eigentlich so berühmt machte. Ihre Geschichte beginnt in Spanien. Die Statue ist das Werk eines unbekannten Künstlers und befand sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts im Besitz der Familie Manrique de Lara. Die wieder auflebende Verehrung der Inkarnation mit ihrer Betonung auch der menschlichen Seite Jesu Christi, der zum bloßen Kinde geworden war, erfreute sich damals in Spanien regen Interesses. Die Heilige Theresia die Große (von Avila), Reformatorin des Karmelitenordens, nahm die Statue des Jesuskindes stets mit sich, wenn sie Klöster gründen wollte.
Als im Jahre 1556 Maria Manrique de Lara den böhmischen Adeligen Wratislaw von Pernstein heiratete, erhielt sie von ihrer Mutter Isabella das wertvollste Familienandenken als Hochzeitsgeschenk und brachte das Jesulein in ihre neue Heimat Prag mit. Die noble spanische Dame verstarb 1608 in Prag. In Böhmen blieb deren majestätisches Porträt von Alonso Sanchez Coella erhalten (Dona Maria umarmt mit dem rechten Arm auf diesem Bild ihre kleine Tochter Polyxena; das Bild befindet sich in der Galerie des Schlosses Nelahozeves).
Innerhalb der stolzen Kinderschar, die der Ehe von Wratislaw von Pernstein und Dona Maria Manrique de Lara entstammte, nahm die Tochter Polyxena den vordersten Platz ein. Der entscheidende Grund hierfür war ihre Ehe 1587 mit Wilhelm von Rosenberg, einem Adeligen, der nach dem Tod von Wratislaw von Pernstein an der Spitze der auf Spanien ausgerichteten Adeligen in Böhmen stand.
Wilhelm von Rosenberg verfocht die spanischen Interessen in einem solchen Maße, daß auch er mit Hilfe des spanischen Königs Philipp II. Mitglied des Ordens vom Goldenen Vlies wurde. Polyxena brachte ein außergewöhnliches Hochzeitsgeschenk in die Ehe mit diesem bedeutsamen Manne ein: Von ihrer Mutter hatte sie eine kleine Statue des Jesuskindes erhalten, das Familienpalladium. Es war eben ein Abbild der Frömmigkeit in der mütterlichen, spanischen Heimat. Gleichzeitig wurde es mehr und mehr zu einem Symbol des neuen barocken religiösen Erlebens in Böhmen.
Die Ehe von Polyxena dauerte nur fünf Jahre, dann starb ihr erster Gatte. Im Jahre 1603 ging die mit Scharfsinn und Schönheit begnadete Frau eine neue Verbindung ein – sie heiratete Zdenko Adalbert von Lobkowitz. Auch er war sehr eng mit Spanien verbunden und besuchte mehrmals das Reich Philipps II. Dabei empfing ihn der König sogar in seinem monumentalen Herrschaftssitz, dem Escorial.
An der Seite ihres Gatten Zdenko Adalbert von Lobkowitz durchlebte Polyxena auch eine der für Böhmen schwersten Zeiten, den 30jährigen Krieg.
Zdenko Adalbert von Lobkowitz verstarb im Jahre 1628. Gleichzeitig übergab Polyxena die Statue des Jesulein dem Kloster der unbeschuhten Karmeliter. Von diesem Augenblick an hatte die Statue nicht nur mehr die Schirmherrschaft über eine Familie, sondern über Prag, Böhmen, ja die ganze Welt zu übernehmen. Im Böhmischen Königreich, durch den blutigen 30jährigen Krieg ans Kreuz genagelt, sollte die verehrte Gestalt Jesus durch die Pflege der Karmeliter zum Symbol eines neuen Beginns werden. Sie sollte ein Vermittler der neuen Frömmigkeit, geistiger Flammen werden, die die spanischen Erneuerer des Karmels, die Hl. Theresia von Jesus und der Hl. Johannes vom Kreuz entflammten.
Im 30jährigen Krieg fielen die Sachsen in Prag ein und plünderten Kloster und Kirche. Sie schlugen dem Jesulein beide Händchen ab und warfen sie hinter den Altar unter Gerümpel, wo es einige Jahre lang unbeachtet lag. Pater Cyrill aus München war es zu verdanken, dass es mit Hilfe eines königlichen Prager Beamten wieder repariert werden konnte. Der “Kleine Prager” erlangte wiederum bei den Gläubigen allseitige Verehrung und es wurden ihm viele wundersame Begebenheiten zugeschrieben, unter anderem auch die Errettung Prags bei der Belagerung durch die Schweden.
Viele Bittsteller suchten Hilfe und Trost beim “Karmeliterjesulein” und immer wieder hörte man von ungewohnten Erhörungen. Im Jahre 1655 setzte der Prager Weihbischof dem Jesulein eine wertvolle Krone aufs Haupt, als Zeichen der königlichen und göttlichen Würde Gottes, der zum Kind geworden war. Auch Kaiserin Maria Theresia schenkte dem Kind ein wertvolles Kleid.
Vom künstlerischen Standpunkt aus gesehen ist das Prager Jesulein eine etwa 45 Zentimeter hohe Wachsfigur. Es stellt ein in ein weißes langes Hemdchen eingehülltes, ungefähr drei Jahre altes Kind dar, dem die nackten Füßchen hervorgucken. Die sehr sorgfältig gestalteten Haare umrahmen ein liebreizendes Gesichtchen, das wegen seiner Vollkommenheit und Schönheit Bewunderung erregt.
Die Karmeliterinnen kleiden das Jesulein in wertvolle verschiedenfarbige Gewänder, die je nach den einzelnen Abschnitten des Kirchenjahres oder bei bedeutenden staatlichen und internationalen Anlässen gewechselt werden. In der Garderobe der Statue befinden sich mehr als siebzig aus alten Stoffen hergestellte, mit Perlen und böhmischen Granaten verzierte, mit Gold und Silber und mit gestickten religiösen oder nationalen Motiven der Herkunftsländer geschmückte Gewänder.

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